Über Formen nachdenken, die entstehen, sich entwickeln und wieder verschwinden
- alba.lateinamerika lesen

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Aktualisiert: vor 8 Stunden
Es gehört zu den Kennzeichen von alba.lateinamerika lesen, ausgewählte lateinamerikanische Literatur nicht nur ins Deutsche zur bringen, sondern auch mit visueller Kunst zu verbinden. Auf einen ähnlichen Dreiklang stoßen wir in dem poetischen Werk Da war Licht oder etwas Ähnliches wie Licht/Había luz o algo parecido a la luz, erschienen im Hagebutte Verlag 2025. Wir freuen uns daher sehr, dass wir mit der Autorin María José Ferrada und dem Künstler Rodrigo Marín ein digitales Gespräch führen durften, um diese Ausgabe ihres Buches sowie ihre gemeinsame Arbeit vorzustellen.
Titelbild: (c) Rodrigo Marín, Da war Licht oder etwas Ähnliches wie Licht/Había luz o algo parecido a la luz (Hagebutte Verlag, 2025)
Texte von María José Ferrada
Übersetzung: Silke Kleemann
alba Natürlich interessiert uns als Allererstes: Wie kam es zu diesem Buch?
María José Dieses Buch ist weniger aus einer klaren Idee als aus Bildern hervorgegangen, die mit Vergänglichkeit zu tun haben – ein Thema, um das ich in meiner Arbeit immer irgendwie kreise. Als ich ungefähr fünf Jahre alt war, sah ich Die Sandburg von Co Hoedeman. Das ist ein Stop-Motion-Kurzfilm aus den Siebzigerjahren, und er erzählt die Geschichte einer kleinen Zivilisation, die entsteht und nach einer Weile – es können Minuten oder Jahrtausende gewesen sein – wieder verschwindet. Mich hat daran beeindruckt, über Formen nachzudenken, die entstehen, sich entwickeln, ein System erschaffen und dann wieder verschwinden und nur Reste hinterlassen. Das lässt sich im größeren Maßstab denken, Millionen Jahre alte Sterne etwa, oder im kleineren, wie zum Beispiel Organismen, die nur durch ein Mikroskop zu erkennen sind. Beide sind, in verschiedenen Geschwindigkeiten, demselben Zyklus Entstehung-Veränderung-Verschwinden unterworfen. Kein Lebewesen kann dem entkommen. Da war Licht oder etwas Ähnliches wie Licht versucht, dieser Bewegung zu folgen. Und dieses Thema ist mit einem anderen verwoben, nämlich der Beziehung zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen, was mich auch sehr interessiert.
alba Um auf die Bilder im Buch zu sprechen zu kommen: Der Übergang zwischen Text und Bild ist sehr subtil. Da gibt es zwischen den Texten manchmal nur ein Bild und dann eine Reihe von Bildern, wie Nahaufnahmen von Wurzeln. Rodrigo, wir würden gern etwas über deine Fotografien erfahren, die Technik, die Orte usw.
Rodrigo Die Idee war, eine Atmosphäre zu schaffen und eine Geschichte innerhalb der Geschichte zu erzählen. Das läuft oft unbewusst ab. Außerdem ist mir wichtig, dass die Bilder nicht mit dem Text konkurrieren, sondern sich dem Text und dem Buch zur Verfügung stellen.
Ich hatte einige Fotos, die während der Herausgabe des Buches in Chile 2020 entstanden sind. Diese Ausgabe ist mit Fotomontagen illustriert, aber als wir zusammen mit Martin Pflanzer, dem Verleger von Hagebutte, über die Konkretheit der Fotomontagen im Unterschied zur Abstraktheit der Fotos nachdachten, entschieden wir, alles neu zu machen und diesmal mit Fotos, die nicht an vielen verschiedenen Orten, sondern nur in München entstanden sind. Mit Martin zu arbeiten, war eine sehr schöne Erfahrung wegen der Zeit und der Hingabe, die er dem Buch gewidmet hat.
alba María José, du schreibst vorwiegend Kinder- und Jugendbücher, und obwohl du schon einige Romane für Erwachsene veröffentlicht hast, ist dies dein erster Lyrikband für Erwachsene. Wie war es diese Erfahrung für dich?
María José Das Buch wird zwar als Lyrik für Erwachsene katalogisiert, aber ich persönlich sehe da keinen so großen Unterschied, denn auch ein Kind mit zwölf oder vierzehn Jahren könnte es ohne Schwierigkeiten lesen. Es gibt wichtige Punkte, zum Beispiel den Ton, oder wenn ich mir eine gewisse Abstraktion erlaube, Leerstellen im Kontext, von denen ich weiß, dass die lesende Person sie füllen kann. Aber dabei mache ich keinen großen Unterschied zwischen den Altersstufen, da es immer vom Leser abhängt. Ich habe zum Beispiel mit zwölf Jahren angefangen, Bücher für Erwachsene zu lesen. Diese Kategorien dienen eher den Verlagen, dem Verkauf und der Katalogisierung der Bücher. Ich glaube, dass Kinder auch Bücher für Erwachsene lesen können.
(S. 3)
La aldea es un escenario dispuesto en el centro del bosque.
Lo sabemos porque nosotros mismos lo construimos.
Primero el escenario, luego el guion.
Árboles.
Pájaros.
Todos los actores de esta historia
son figuras de cartón.
Das Dorf ist eine mitten im Wald angelegte Bühne.
Das wissen wir, weil wir selbst sie errichtet haben.
Zuerst die Bühne, dann das Drehbuch.
Bäume.
Vögel.
Alle Schauspieler in dieser Geschichte
sind Pappfiguren.
alba Wie ist es, wenn du ein neues Buch beginnst? Wie entwickelst du deine Ideen?
María José Es gibt verschiedene Arten von Büchern. Manchmal haben die Verlage eine Serie von Bildern vorliegen und bitten mich um einen Text dazu. Mit Rodrigo habe ich auch so gearbeitet, also dass zuerst das Bild da ist und ich dann den Text schreibe. Es ist, als ob ich ein Gemälde betreten würde, ich sehe, was ich finde und schaffe Geschichten dazu. Bei persönlichen Projekten sagt mir der Text selbst, für welche Art Leser er sein könnte; oder vielmehr gibt er mir einen Ton vor, und so höre ich heraus, ob er sich eher an jüngere oder an ältere Kinder richtet. Aber ich versuche, das nicht zu erzwingen, der Text selbst sagt mir, wie ich weitermachen soll.
alba Wenn du sagst, der erste Impuls ist ein Bild, oder das Bild existiert bereits und du schreibst einen Text dazu – inwiefern stehst du dann im Dialog mit Rodrigo oder anderen Illustrator:innen?
María José Ich mische mich in die Arbeit der Illustrator:innen nicht ein, es sei denn, ich werde gefragt oder um eine Meinung gebeten. Ich glaube, dass eine Meinung vor allem am Anfang die Arbeit in eine bestimmte Richtung lenken kann, deshalb sehe ich mir die Bilder lieber erst dann an, wenn der Prozess schon weit fortgeschritten ist, wenn es bereits eine Atmosphäre gibt. Die Herausgeber sind ebenfalls daran beteiligt, sie fügen sozusagen zwei Sprechweisen zusammen. Wenn die Illustrationen fertig sind, gehe ich den Text noch einmal durch, und wenn ich zum Beispiel etwas von dort im Bild finde, streiche ich es aus dem Text.
alba Es handelt sich außerdem um ein zweisprachiges Buch – die Gedichte erscheinen sowohl auf Spanisch als auch auf Deutsch. Wie war die Zusammenarbeit mit Silke Kleemann, der Übersetzerin?
María José Es ist schon das dritte Buch, das ich mit Silke zusammen mache, und mit der Zeit sind wir Freundinnen geworden, das heißt, wir haben das gegenseitige Vertrauen, uns Fragen zu stellen. Sie arbeitet sehr genau, zum Beispiel schlägt sie mir verschiedene Alternativen vor, die sie mir erklärt, und ich kann entscheiden, welche am passendsten ist. Als wir an diesem Buch gearbeitet haben, waren Rodrigo und ich gerade in Deutschland, und so konnte ich Silke auch lesen hören und den Klang berücksichtigen, der in der Lyrik ebenfalls wichtig ist.
(S. 12)
Un animal corrió por el techo.
„Otra vez este animal enfermo desató la lluvia“
eso fue lo que dijeron.
Desde entonces los días son elásticos y se hacen tan largos
que no pasan
o tal vez pasan y somos nosotros
los que vamos dejando
de notar
la noche.
Ein Tier trapste über das Dach.
„Schon wieder hat dieses kranke Tier den Regen ausgelöst.“
Das sagten sie.
Seither sind die Tage elastisch und ziehen sich so in die Länge
dass sie nicht vergehen
oder vielleicht vergehen sie und wir sind es
die allmählich
die Nach
nicht mehr bemerken.
alba Was, glaubt ihr, könnte dieses Buch dem deutschen Lesepublikum geben?
María José Ich nehme wahr, dass in Deutschland viel über den Gegensatz zwischen dem Natürlichen und Künstlichen nachgedacht wird, und ich glaube, an diesem Punkt könnte ein Dialog mit dem Leser ansetzen. Es ist eine schöne Gelegenheit: Zuerst haben wir das Buch in Chile veröffentlicht, und jetzt haben wir als lateinamerikanische Literatur einen Platz im Hagebutte Verlag gefunden.
Rodrigo Ich stimme María José zu, es ist ein Ort, den wir gernhaben. Wir haben längere Aufenthalte in Deutschland verbracht, wir haben Freunde dort, und der künstlerische Austausch ist uns sehr wichtig.
alba Zum Abschluss würden wir gerne fragen, ob ihr schon an einem neuen Projekt arbeitet…
María José Wir arbeiten an einem neuen Buch, und zwar an einem Fotobuch für Kinder mit dem Titel Como si fuera un secreto o una maravilla („Als wäre es ein Geheimnis oder ein Wunder“). Es spielt in dem Dorf, in dem meine Mutter lebt. Im Buch treten die Dorftiere auf, auf der Straße, am Fluss, die Kühe, der Hund, die Katze. Letztere sind herrenlos, aber alle kümmern sich um sie. Der echte und Hund und die echte Katze sind inzwischen gestorben, weil sie schon alt waren, aber im Buch leben sie weiter.
Außerdem wurde das Buch durch Rodrigos Mutter inspiriert. Sie hatte Hefte über das Nähen, da sie Schneiderei unterrichtete. Als Kind zeichnete Rodrigo Tiere an die Ränder dieser Hefte.
Rodrigo Kinderliteratur spielt nur selten im Dorf, und Fotografie kommt ebenfalls kaum im Kinderbuch vor. Und dann haben wir noch den Aspekt hinzugefügt, dass Kinder sich ein Buch nehmen und hineinkritzeln. Mit Como si fuera un secreto o una maravilla soll also so etwas entstehen wie „mein erstes Fotobuch“.
alba María José und Rodrigo, wir danken euch sehr für dieses Gespräch, um eure Arbeit und insbesondere die deutsche Ausgabe von Da war Licht oder etwas Ähnliches wie Licht/Había luz o algo parecido a la luz vorzustellen. Es ist im wunderbaren Hagebutte Verlag erschienen, und wir empfehlen es jeder Person, die Poesie liebt, sei es im Wort oder im Bild.

María José Ferrada (Chile, 1977) ist Journalistin und Schriftstellerin. Ihre Bücher wurden in rund zwanzig Sprachen übersetzt. In Deutschland erschienen die Romane Kramp und Der Plakatwächter (Berenberg Verlag) sowie die poetischen Kinderbücher Als du Wolke warst und Zwischen dem Gras (Hagebutte Verlag). Ihre Arbeit wurde mit zahlreichen literarischen Preisen gewürdigt, darunter der Premio Iberoamericano Cervantes Chico und der Premio New Horizons der Internationalen Kinderbuchmesse Bologna.
Rodrigo Marín ist Grafikdesigner und Websiteprogrammierer. Er hat Bücher für Kinder und Erwachsene illustriert. Die Bücher, an denen er mitgewirkt hat, erhielten Auszeichnungen wie den Premio del Círculo de Críticos de Arte de Chile (2022), den Premio a la Edición de la Cámara Chilena del Libro (2020) und den Premio Fundación Cuatrogatos in den USA (2016). Von Januar bis März 2025 nahm er am Artist-in-Residence-Programm der Landeshauptstadt München teil.




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