Cristina Rivera Garza: „Die Feministinnen“ und „Hintergrundmusik“
- alba.lateinamerika lesen

- 21. Dez.
- 3 Min. Lesezeit
Cristina Rivera Garza hat diesen Text beim Salón Berlinés am 08.09.2025 gemeinsam mit Elza Javakhishvili vorgetragen.
Die Übersetzung wurde freundlicherweise ermöglicht von der Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie ist im Rahmen einer Kooperation von Salón Berlinés und alba.lateinamerika lesen e.V. entstanden.
Moderation: Ingeborg Robles und José Luis Pizzi
Montags 19 Uhr, Crellestr. 26, 10827 Berlin
Übersetzung: Johanna Schwering
Die Feministinnen
Sie benutzten das Wort. Spuckten es aus. Feierten es.
Sie rannten.
(Der Begriff sollte hinterlegt sein mit dem Rauschen des Windes.)
Sie redeten gegen den Strich. Unterbrachen einander.
Oh ja, so unverschämt.
Sie lebten unter freiem Himmel, wo sie auch fühlten.
Ich vermute, so wurden sie schon geboren.
Sie kannten weder Unterschlupf noch Dach, weder Schutz
noch Vormundschaft.
Alles schmerzte sie (und alles heißt hier
Geschichte, Luft, Gegenwart, Konjunktiv,
Kontext, Flucht).
Sie waren eher agnostisch als atheistisch. Eher beeindruckend als
schön. Eher verletzlich als schwach. Eher lebendig
als du. Oder ich. Eher stoisch als stark.
Eher heiter als Schein.
Intolerant. Ja. Manchmal.
Sagte ich schon, dass sie knallhart waren?
Sie marschierten an grimmig hellen Tagen wie Musen
ihrer selbst
(dies vor allem im Winter, wenn
die Santa-Ana-Winde kamen und gingen
auf den Boulevards von Tijuana, Plastikfetzen
dahinfegten und Staub, vor dem man die Augen schließt
und die Realität leugnet)
am Rande von allem, wankend
waren sie der letzte Tropfen am Flaschenhals
(der sagenhafte des Glücks oder noch sagenhafter
der, der das Glas zum Überlaufen bringt oder das Geschlecht
undurchdringlich die Eigenart seiner Öffnung)
und sie fielen.
Der Höhepunkt.
Die Essenz.
Das Ende.
(Unter diesen Sätzen sollte man den Mief riechen können
den der horizontale Wind zurücklässt.)
Ich vermute, so sind sie erst mit der Zeit geworden.
Männer, oder manchmal auch mannlos, küssten sie
labiodental.
Und sie zogen von Haus zu Haus und wechselten die Socken
und kochten Reis.
Und sie gingen die Treppen runter und nahmen Taxis und empfanden kein
Mitleid.
Sie sagten: Das ist der Wind, der alles reinigt.
Und sie benutzten das Wort. Emphatisch. Beharrlich.
Vormenschlich.
Kategorisch. Ja. Oft.
Eher pointiert als wirr. Eher vorhersehend als
bewusst. Eher unverhohlen als kritisch.
Hypertextuell. Geradeheraus.
Ich bin sicher, ich sagte bereits, dass sie knallhart waren.
Sie rauchten ohne Zweifel.
Sie schlugen ein neues Kapitel auf mit der schlichten Hingabe
und Vorsicht der Verliebten.
Sie waren immer verliebt.
In den trockenen Santa-Ana-Tagen hoben sie
den Blick und widmeten sich (manchmal
stundenlang) diesen Vögeln, die über ihren Köpfen so
geistreich den Widerstand der Luft überwanden.
Und der Santa Ana (hier sollte man ein ums andere Mal
das Wort hören) (ein ums andere Mal) zerzauste derweil
ihre wilden Mähnen. Ihre blutigen Wimpern
(ein ums andere Mal).
Hintergrundmusik
Manchmal zogen sie ihre Haut ab und hängten sie
auf die Leine. Das geschah an Tagen
wenn sie erschöpft aufwachten, an Tagen
wenn sie kurz vorm Ich-kann-nicht-mehr standen.
Und die Haut wehte im begehrtesten Licht.
Und sie schaukelte in Armen des Windes, die
Niemands Arme sind, als gäbe es eigentlich
gar keinen Grund zum Sterben.
Sie roch nach Berührung und Staub und Plastikblumen
ein wenig nach Zitrone, und zeigte ihre Narben
mit diesem Gleichmut, der oft verwechselt wird
mit Stolz.
Es war ein Bild von bukolischem Ansinnen und naiver Schönheit.
Hätte ich nicht gewusst, dass das ihre Haut war,
ihre Haut an diesen Tagen, an denen sie so kurz
vorm Untertauchen waren, ich hätte meinen können,
es wäre eine Fernsehwerbung, der bloß noch Musik fehlte
Geigen und Axtklänge.

Cristina Rivera Garza wurde in Matamoros, Mexiko, geboren. Sie ist Soziologin, Historikerin und Schriftstellerin. Ihr Werk umfasst Romane, Kurzgeschichten, Gedichtbände und literarische Sachbücher. Sie wurde unter anderem mit dem MacArthur-Award, dem Anna-Seghers-Preis und 2024 mit dem Pulitzer-Preis für „Lilianas unvergänglicher Sommer“ ausgezeichnet. 2025 ist Rivera Garza Curator in Residence des 25. internationalen literaturfestival berlin.
Johanna Schwering hat Lateinamerikanistik und Komparatistik an der FU Berlin studiert. Sie arbeitet als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Spanischen in der Belletristik. Von 2012-2014 war sie Redaktionsmitglied von alba. lateinamerika lesen. Für ihre Übersetzung von Aurora Venturinis Roman Die Cousinen wurde sie 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Ihre Übersetzung von Cristina Rivera Garzas Buch Lilianas unvergänglicher Sommer ist 2025 bei Klett Cotta erschienen.




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