Vier Gedichte von Tom Schulz
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- 6. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 13. Apr.
Wolfstränen
Vergossen, all die Tränen
Tränenbuketts von Philippe Jaccottet
ausgestopfte Tränen, Blumen
auch Schlafmohn, Traum
und Tramal
Ausgewilderte Nacht
Wolfstränen, an der Drôme
Herzplateau, Mergelwand
Jetzt sind die Flüsse leer
geschrieben und du stehst an der Tränen-
Tankstelle, ein bisschen wacklig
vielleicht, auf deinen zu wenigen Beinen
Wolfstränen, die wir vergießen
die weiter fließen
Zweite Stendaler Elegie
Bitte sende mir Abende, sende mir Wochenenden
damit die Tränen nicht im Vorortzug sitzen müssen.
Sende mir Sendungen vor dem Schlaf, den Liebes-
Trank einhundert Gramm.
Ich lebe jetzt auf einem Hügel in einer Welt der
Infusomaten. Es ist so still hier, dass ich meine
Knochen flüstern höre. Über eine Dorfstraße
aus gerumpeltem Pflaster schleicht der Leier-
Kastenmann. Die Kutsche bringt Beutel und
Schläuche hinauf zum Schloss. Abends tanzen wir
um die Birken. Bitte sende mir eine Ansichtskarte
von deinen weichen Knien. Bitte sende mir deine
schwärzeste Stunde, ich will um sie anhalten.
Bitte sende mir eine Ansichtskarte von einem Kuss.
Es gibt kein Jahr 2046, damit musst du dich abfinden.
Es gibt keine Umlaufbahn, nur den Fahrstuhl.
Das Bettenlager. Die Ebenen eins bis fünf.
Bitte sende mir einen Hauch von deinen Lippen.
Damit die Tränen nicht zweiter Klasse fahren.
Damit die Tür nicht vor den Tränen zufällt.
Aschesegen
I
März ist der sanfteste Stein
heb ihn nicht auf, lass alles Gras
hindurch. Wir wollen zur Herberge
wandern hinter der Stirn
Gebrochener Stein, einer
zum anderen, über das Wasser
hüpfender Stein.
II
Käme ein Nachtrupp fremder Wesen, engelsgleich
spendete uns den Aschesegen?
Unsicher stehen wir auf den Herzen der Freunde.
III
Ich werde, wenn ich tot bin
die Hundsrose sein an deinem Grab.
Ich werde mit der Laterne
über die Straße gehen.
Ich werde den Zeiger der Sonne
noch einmal nach dem Mond drehen.
IV
Verabschiede dich nie
von einem Tier, denn es kennt dich
nur im Raum und keiner Zeit.
Hinter der Schwelle
bist du ein Gemisch aus Schatten und Geruch.
Im Aug die Trauer wirst du wieder sehen.
Das Tier liegt an der Kette vor der Tür.
Wenn das Blüthenstaub-Taxi hält
Wenn das Blüthenstaub-Taxi hält, steig bitte
ein. Ich wollte immer an deiner Seite sein, sei
es Milano oder eine der Schluchten.
Ich wollte einfach an deiner Seite sein.
Sehen, wie dein Haar liegt, wie es fällt.
Wie du die Dinge in einem Harmonium trägst.
Manchmal sind die Dinge leicht und unverpackt.
Sie bestehen aus sich. Sie leeren sich in einer Fülle.
Aus einem Springbrunnen entspringt ein Gebirgssee.
Schön seien die Dinge wie Hanf oder eine geküsste
Hand, so nah an Herzhand. Sei es tropfenweise Schweiß.
Du weißt so vieles mehr als ich.
Du weißt so vieles mehr als ich, wäre da nicht
das Gefühl für die Strohbeere. Die Empfindung
für das Gemähte, das Niedergetretene.
Für die Strohbeere. Durch viele Hände bin ich geschlüpft.
Meine Nüstern waren mir ziemlich fremd. Ich habe
alles, den Ausweg, in einem Freigehege gefunden.
Wie Schälobst bin ich durch viele Hände geschlüpft.
Und jenes Strömungsbild zwischen uns, die gedrängten
Linien lösen sich auf. Wohin wir fließen, woher?
Wohin und woher? Im Fließen scheint Wasser nichts
Geführtes. Von einer Stelle aus schreiben, wo keiner
jemals gewesen ist, wo du dich verzweigst, ins Vielfache.
Vielfaches einer flüchtigen Berührung. Mehrzahl
von Liebe, von Klatschmohn; von Anti-Rupfmaschine
Das, was wir doppelt sehen, existiert zweimal mehr.
In die Mehrzahl von Liebe, in die Spannung der
Sehnen, unter den Rist. In die Kuhle, die Kehle.
Ein kleines Versteck, gleich hier.
Gleich hier, möchte ich, wie es die Doktoren tun
Rotkraut in Blaukraut verwandeln und raspeln.
So wie ihr möchte ich Sü.h.lzer klopfen!
Ich möchte den Lauf nicht ändern, wenn, wie es
vorkommt, die Augen die sanften Hügel streifen.
Das, was wir in uns tragen, bildet den Grund.
Grund, Fisch zu sein, den man weiter beatmet. Dies wäre
eine Geschichte der Quellen, ferner Plätze. Ein jeder wurde
aus einer Rinde geschält, die sich selbst verzehrt.
Aus der Ferne, komm näher in den Tanz der Bestimmungen.
Jede Berührung ruft etwas wach. Der Palast liegt noch
im Dunkel gefälschter Palmen, Träume und Sterne.
Im Dunkel die kleinen Dinge sammeln, zu Kissen
formen. Das Zeichen, die Fährte, die Haut. Hin-
Gabe, dreimal am Tag, Küsse und Babyspinat.
Nichtregierungskinder, bärtige Kinder pflücken Baby-
Baby-Mangold. Mandschurische Äpfel laufen über.
Den Verkehr leite um, zeig ihnen das Zeichen.
Zeige das Zeichen und forme einen Anker aus Luft.
Wenn jede jedem ein Blatt reicht mit Adern und
Lebenslinien, wird etwas Gestalt und Zuwendung.
Wir lieben einander, vielleicht im Raum oder der Zeit.
Ein Blatt mit Adern. Kontrastmittel, Schüttgut aus Herz-
Kammern. Wir lieben einander in der Idee von Raumzeit.
Du weißt so vieles mehr als ich, die Dinge sind leicht.
Die unpolierte Seite einer Sache ist das eine. Das Auf-
Geraute, die zärtliche Ferse, das Überbein.
Das Weiß einer Wolke, so vieles mehr. Du wünschtest
dir eine Schokolade — Wunder von Mailand. Wir halten uns.
Die Wolke, das Weiße uns, auf den Treppen von Ticinese.
für Maria Borio

Tom Schulz, der zu den wichtigsten deutschsprachigen Lyrikern zählt, wurde in der Oberlausitz (Sachsen) geboren und wuchs in Ost-Berlin auf. Er lebt als freier Autor, Herausgeber und Dozent für Kreatives Schreiben in Berlin. Für seine Gedichte erhielt er zahlreiche Preise und Stipendien, u.a. den Alfred-Gruber-Preis, das Alfred-Döblin Stipendium und das Berliner Senatsstipendium für Literatur. Außer zahlreichen Gedichtbänden hat Tom auch literarische Reportagen und Reiseberichte veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm Die Erde hebt uns auf und Briefe aus der Roten Wüste / lettere dal deserto rosso. Gedichte / Poesie. Briefgedichte Mit Maria Borio. Foto: Daniel Hengst
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