Veronica Stigger
Aus dem brasilianischen Portugiesich von Christiane Quandt

Die Kiste war riesengroß und aus Pappe. Etwa anderthalb Meter lang, einen Meter breit und sechzig Zentimeter hoch. Drei Gestalten trugen sie. Sie bewegten sich in der Kiste; die Öffnung über die Köpfe gestülpt blieben ihre Gesichter und ein Teil der Oberkörper verborgen, als wären sie der Fuß und die Kiste der Schirm einer Stehlampe. Oder als ob sie die Beine und die Kiste der Körper eines Ochsen beim boi-bumbá-Fest wären. Die Gestalt, die voranging, trug dunkle Jogginghosen, ein ebenfalls dunkles Sport-Shirt und weiße Sportschuhe. Der mittlere trug über der schwarzen Anzughose einen grauen Regenmantel, der bis zum Knie ging. An den Füßen trug er ebenfalls schwarze Schuhe. Er schien der kleinste der drei zu sein und vielleicht der älteste. Der dritte war zweifelsohne der größte. Er musste mit leicht gebeugten Knien laufen, um die anderen nicht zu sehr zu überragen. Er trug schwarze Hosen, eine schwarze Windjacke und schwarze Schuhe. Alle drei waren schlank, oder schienen es zumindest. Aber nicht so schlank, dass man sie als Skelette hätte bezeichnen können. Sie waren schlank, aber gesund, wahrscheinlich hauptsächlich genährt durch Braten und Kartoffeln. Da die Kiste einen Teil der Körper verdeckte, war es nicht möglich zu erkennen, ob sie weiß oder schwarz waren, oder weiß und schwarz. Und noch weniger, ob sie, wenn sie weiß waren, blonde oder dunkle oder sogar rote Haare hatten. Es war auch nicht ermittelbar, wie sie so laufen konnten, ohne zu stolpern. Wahrscheinlich hatten sie kleine Löcher in die Kiste gebohrt, um ihre Umgebung sehen zu können. Oder vielleicht hatte die Kiste schon von Anfang an Risse, und es war nicht notwendig gewesen, Maßnahmen zu ergreifen. Überhaupt wusste man nicht, warum sie die Kiste so über die Köpfe gestülpt trugen, was ihnen die Sicht und das Gehen erschwerte. Wenn es geregnet hätte, hätte es zum Schutz sein können: die Kiste als riesiger Regenschirm. Aber es regnete nicht. Der Tag war grau angebrochen, aber es war kein Tropfen gefallen, und es sollte auch so bleiben, bis zur bevorstehenden Abenddämmerung. Vielleicht war es eine Art Verkleidung. Vielleicht wollten sie nicht erkannt werden, obwohl sie noch nie da gewesen waren. Obwohl man sie nicht identifizieren konnte, wusste man mit Sicherheit,
dass es Fremde waren: niemand in jener kleinen Stadt wagte es, einen Regenmantel zu tragen, nicht einmal, wenn es wie aus Kübeln schüttete. Aber die Kiste konnte auch ein Zeichen von Scheu sein. Ihre Gesichtszüge waren vielleicht entstellt und sie schämten sich deswegen. Oder vielleicht gab es wirklich keine andere Möglichkeit diese riesige Kiste durch den starken Wind zu tragen, der vom Fluss her wehte, der um die Stadt herumfloss. Der Wind war dort immer stark. Wenn sie sie auf dem Kopf tragen würden, mit der Öffnung nach oben, würde sie wahrscheinlich wegfliegen. Unter den Armen wäre unmöglich, dafür war sie zu groß. Hin und wieder hielten sie an, gingen in die Hocke, bis die Kiste den Boden berührte und sie ganz verbarg. Und so blieben sie ei-
nige Minuten regungslos, als wäre die Kiste mitten auf dem Weg vergessen worden. Dann richteten sie sich unversehens wieder auf und liefen weiter. Sie durchquerten still die leeren Straßen. Um diese Zeit waren die Bewohner der Stadt längst in ihren Wohnungen. Obwohl es noch nicht dunkel war, bereiteten sie das Abendessen vor, das serviert wurde, sobald die Glocken der Kirche auf dem Hauptplatz neun Uhr schlugen. Ich hatte gehört, die drei Männer waren in einem weißen Auto gekommen, einem Oldtimer mit getönten Scheiben und einem fremden Kennzeichen. Ein Lastwagen
hätte ihnen die Vorfahrt genommen und als sie auswichen, um den gefährlichen, vielleicht tödlichen Aufprall zu verhindern, haben sie dann wohl die Straße verlassen und sind erst im Wald, zwei Kilometer vor der Stadtgrenze, zum Stehen gekommen. Offenbar war die Achse gebrochen und der Wagen wurde inmitten der hohen Vegetation stehen gelassen. Als die drei zu Fuß wieder die Straße erreichten, hatten sie
schon die Kiste auf dem Kopf. Und so liefen sie weiter, auf die Stadt zu. Wir werden nie erfahren, ob ihr Ziel tatsächlich die Stadt war, oder ob sie durch Zufall hier gelandet sind. Oder wäre es vielleicht besser zu sagen: durch einen Unfall? Nachdem sie den Platz überquert hatten, hielten sie an. Der mit den Sportschuhen wollte geradeaus weiter, aber der größere machte einen Schritt in entgegengesetzter Richtung.
Beinahe zerrissen sie die Kiste. Sie blieben erneut stehen und hielten eine Weile inne, bewegungslos, mit der Kiste auf dem Kopf. Die Gestalt mit dem Regenmantel verlagerte das Körpergewicht immer wieder von einem Bein auf das andere. Der größere klopfte mit dem rechten Fuß auf den Boden, ein Zeichen von Ungeduld oder Erschöpfung. Der mit den Sportschuhen, der den anderen den Rücken zuwandte, lief wieder los. Die anderen beiden folgten, überrumpelt. Sie liefen nun in Richtung Schule. Es wurde dunkel. Es war Vollmond. Ich mag solche Nächte. Sie schärfen meinen Geruchssinn. Sie gingen die Eingangstreppe hoch und, ohne die Kiste abzusetzen, gingen sie durch die große Holztür mit den goldenen Beschlägen. Die Schultür war niemals verschlossen, genauso wenig wie die Türen aller öffentlichen Gebäude der Stadt, denn hier waren Fremde rar. Wenn jemand von Außerhalb auftauchte, folgten ihm die Blicke, wohin er auch ging, allerdings, in den meisten Fällen, ohne dass es der Besucher bemerkte. Als sie in der Schule waren, gingen die drei den langen Flur im Erdgeschoss entlang, die
Kiste noch immer über den Köpfen. Sie gingen am Büro des Direktors vorbei, wo Nelson, der taubstumme Putzmann, sorgfältig mit dem Staubsauger den Fußboden bearbeitete. Man sagte, er hätte niemanden und deswegen bewohnte er ein Zimmerchen in der hintersten Ecke der Schule, wo auch das alte Plastikskelett aufbewahrt war, das nicht mehr für den Biologieunterricht verwendet wurde. Mit dem Rücken zur Tür setzte Nelson seine Arbeit fort, ohne sie zu sehen. Mich sah er auch nicht. Ebenso wenig sahen mich die drei Gestalten; auf dem ganzen Weg nicht. Niemand bekam mich jemals zu Gesicht. Alle glaubten lieber, dass es mich nicht
gab, auch wenn sie wussten, dass ich da war, um die Drecksarbeit zu erledigen, die Arbeit, für die keiner von ihnen den Mut aufbrachte. Nur Pacheco, der deutsche Schäferhund, lief nicht vor mir fort. Er kam, sah mir in die Augen, strich mir um die Beine und erschnüffelte, wo ich mich herumgetrieben hatte. Er bellte mich nie an. Aber er wedelte auch nie mit dem Schwanz, wenn er mich sah. Er lebte auch in der Schule, zwischen dem Hinterhof und dem Kindergarten, dem einzigen Raum mit bunten Wänden, wo er sich wahrscheinlich auch in diesem Moment aufhielt. Die drei folgten
dem Gang bis zum Ende und betraten die Aula, die leer war und im Dunkel lag. Auf der Bühne waren lediglich sechs Stühle aufgestellt, drei rechts, drei links und ein Stehpult, als stünden sie bereit für einen feierlichen Empfang. Nachdem sie eine Weile vor der Bühne gestanden hatten, wandten sich die drei um und verließen die Aula, sie hielten einen Augenblick im Flur inne, als müssten sie entscheiden, wohin es gehen sollte. Sie gingen dann zur Treppe und hinauf in den ersten Stock. Durch die erste Tür, die sie fanden in den Biologiesaal, wo in Vitrinen ausgestopfte oder in Formaldehyd konservierte Tiere und menschliche Föten in verschiedenen Entwicklungsstadien ausgestellt waren. Während ich sie aus dem Flur durch das kleine Fenster beobachtete, das oben in der Tür eingelassen war, legte ich meine Uniform ab und kleidete mich als Wolf. Wenn sie dann endlich die Kiste auf dem Boden abstellten, um das zu tun, was sie schon die ganze Zeit vorgehabt hatten, würde ich mich vorsichtig in den Biologiesaal schleichen. Ohne dass sie etwas bemerkten, würde ich in die Kiste schlüpfen. Wenn sie die Kiste dann wieder hochnähmen, würden sie mich sehen und alles wäre vorbei.
Veronica Stigger (1973, Porto Alegre, Brasilien) ist Schriftstellerin, Journalistin, Kunstkriti-
kerin, Kuratorin und Dozentin. Bis dato veröffentlichte sie zehn Prosabände: O trágico e outras comédias (2003), Gran Cabaret Demenzial (2007), Os anões (2010), Massamorda (2011), Delírio de Damasco (2012), Opisanie świata (2013), Minha novela (2013), Sul (2013) und die Kinderbücher Dora e o sol (2010), Onde a onça bebe água (2012) (in Zusammenarbeit mit Eduardo Viveiros de Castro), Sombrio em Turvo (2019), O livro dos sonhos (2023), No espaço, com Lygia Pape (2023) und Krakatoa (2024). Erzählungen von ihr wurden ins Katalanische, Spanische, Französische, Schwedische, Englische, Italienische und Deutsche übersetzt. Seit 2001 lebt sie in São Paulo.
Christiane Quandt ist Diplomübersetzerin und Lateinamerikanistin, sie übersetzt Lyrik, Prosa und Essay aus dem Spanischen und Portugiesischen. Zu ihren Übersetzungen zählen u.a. Heiligenbilder und Heuschrecken (Eichborn, 2024) von Layla Martínez, Die schlechte Gewohnheit (Claassen, 2024) von Alana Portero, So forsch, so furchtlos von Andrea Abreu (KiWi, 2022) und Das Margeritenkloster von Lucero Alanís (Ripperger & Kremers, 2017). Ihr Lyrikdebüt auf dem zauberberg ist kein platz mehr für alle erschien 2023 bei etcetera press berlin. Sie lebt und arbeitet in Berlin-Neukölln.
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