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Tagesanbruch

Aktualisiert: 25. Jan.

Fernanda Trías


Aus der ersten Ausgabe von alba, erschienen im April 2012. Übersetzung aus dem Spanischen von Karina Theurer. Illustration: Josefina Capelle


In Berlin wird es nie ganz dunkel. Über dem Horizont bleibt immer ein Lichtschein, als ob eine weit entfernte Stadt gerade in Flammen aufginge. Um halb vier Uhr morgens beginnt es bereits zu dämmern. Es ist nicht der Tagesanbruch, wie wir – aus dem Süden – ihn kennen, sondern vielmehr eine weißliche, beinahe rosafarbene Helle, begleitet vom Gesang nachtaktiver Vögel. Eine trügerische Helligkeit. Zu Beginn scheint es dir, dass das doch gar nicht sein kann, dass wohl irgendeine Straßenlaterne direkt neben deinem Fenster leuchten muss; doch nein. Es genügt, den Vorhang etwas zur Seite zu schieben, um das milchige Grau auszumachen, das den nahenden Morgen ankündigt. Wenn ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeschlafen bin, ist es so gut wie sicher, dass ich vor sechs Uhr nun auch nicht mehr einschlafen werde, bis mich die Müdigkeit dann endgültig übermannt. Obwohl ich ein Nachtmensch bin, hasse ich es nunmal, tagsüber zu schlafen. Ich hasse es, zu sehen, wie das Licht im Fenster allmählich mein übernächtigtes Gesicht zu Tage bringt und die Unordnung, die ich im Verlauf der Nacht hinterlassen habe. Schmutzige Tassen und Teller in der ganzen Wohnung, verstreute Bücher, ein paar Socken auf dem Tisch, ein Federbett auf dem Sessel: die Überreste der Nacht. Man könnte auch sagen, dass ich es nicht mag, wenn die Dinge beginnen, wenn ich selbst gerade am Ende bin. Angst vor dem Tod, vielleicht. Obwohl das Wort Angst es nicht wirklich trifft. Warum sollte es mir auch Angst einflößen? Es macht mich wütend. Es lässt mich voller Neid auf die anderen blicken, die bleiben und einen Tag voller kleiner Aktivitäten beginnen. Wäre ich ein Toter, würde ich die einfachen Dinge vermissen: mir einen Kaffee mit richtig gut aufge- schäumter Milch zu machen, eine Wassermelone aufzuschneiden und alle, auch wirklich jeden einzelnen der Kerne herauszupicken, bevor ich sie dann äße. In Berlin singen um vier Uhr nachts schon die Vögel aus voller Kehle, so laut, dass ich nicht schlafen kann – und keine halbe Stunde später ist die Sonne da, die einen ganz unvorbereitet trifft und mit ihren goldenen Fäden an den Tag fesselt. Eine Spinnwebe des Tages; eine Falle für uns Fremde, die wir mit einem solch plötzlichen Tagesanbruch nicht gerechnet hatten.




Fernanda Trías, geboren 1976 in Montevideo, lebte im Rahmen von Stipendien und Forschungsaufenthalten im Süden Frankreichs, in London, Berlin und Buenos Aires. An der New York University studierte sie Kreatives Schreiben. Für Rosa Schleim wurde sie 2021 mit dem Sor Juana Inés de la Cruz Preis ausgezeichnet. Derzeit lehrt sie Kreatives Schreiben an der Universidad de los Andes in Bogotá, Kolumbien.

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