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Im Dickicht der Übersetzung: etwas verschlingen, was mir nicht gehört, und mich so verwandeln

Aktualisiert: 21. Okt. 2023

Aus dem Interview mit dem brasilianischen Dichter und Übersetzer Guilherme Gontijo Flores, veröffentlicht in der 14. Ausgabe von alba, Juni 2023. Übersetzung von Laura Haber. Illustration von Andrés Muñoz Claros.




alba Sie übersetzen eine große Bandbreite von Werken sowohl aus klassischen als auch aus modernen europäischen bis hin zu indigenen brasilianischen Sprachen. Was bewegt Sie dazu, sich in dieses Sprachendickicht hineinzubegeben?


GGF Erstens mangelnde Scham. Oder zumindest mangelnde Furcht vor dem Scheitern. Ich kann es nicht erklären, aber ich glaube, ich habe es mir von Übersetzern wie Haroldo de Campos, José Paulo Paes oder auch Antônio Feliciano de Castilho aus dem 19. Jahrhundert abgeschaut, die sich mit Sprachen auseinandersetzten, die sie kaum oder gar nicht kannten. Zweitens bin ich überzeugt, dass vor allem bei der Übersetzung von Lyrik zwar zahlreiche Hilfsmittel (frühere Übersetzungen, philologische Kommentare, Nachfragen bei Fachleuten, Wörterbücher, Lexika usw.) das Verständnis des Originaltexts erleichtern, dass aber idealerweise eine Person am Werk ist, die dem poetischen Spiel ergeben ist. Mit anderen Worten ist es bei vielen Übersetzungen wichtiger, die eigene Sprache zu beherrschen als die fremde, um mit Genauigkeit, Ernst und Respekt vorzugehen. Soweit ich mich erinnern kann, kam es mir zum ersten Mal in den Sinn zu übersetzen, als ich eine zweisprachige Ausgabe von Rimbauds poetischer Prosa gelesen habe. Die Übersetzung war von Ivo Barroso, und ich war 16, 17 Jahre alt. Damals hatte ich keine Ahnung von Französisch, aber allein wegen der zweisprachigen Ausgabe probierte ich gewagte Lösungen aus und besprach sie mit meiner Mutter, die gut Französisch konnte. Ab dem darauffolgenden Schulhalbjahr lernte ich dann Französisch. Und zu Beginn meines Studiums sollten wir für meinen Lateinprofessor Raimundo Carvalho das 5. Gedicht von Catull übersetzen. Ich konnte nur sehr wenig Latein und wusste fast nichts über römische Lyrik, aber ich bemühte mich um ein poetisches Ergebnis. Anschließend bat ich Raimundo Carvalho, mein Lehrer für die lateinische Sprachkunst und Lyrikübersetzung zu sein. Denn ich hatte beschlossen, Übersetzer aus dem Lateinischen zu werden. Wenn ich diese beiden Geschichten erzähle, stelle ich fest, dass ich schon immer übersetzen wollte, was ich nicht kenne – ein bisschen wie das anthropophagische Axiom von Oswald de Andrade: »Mich interessiert nur das, was mir nicht eigen ist. Gesetz des Menschen. Gesetz des Anthropophagen.« Ich begebe mich in ein Sprachendickicht, wie Sie sagen, und ich muss mir Mühe geben, nicht zu stolpern, sondern vorwärtszukommen. Übersetzen war für mich immer schon ein Ausgangspunkt, um zu lernen, um Unbekanntes zu erforschen oder um etwas zu verschlingen, was mir nicht gehört, und mich so zu verwandeln.


alba 2019 haben Sie einen Text zur Übersetzung schamanischer Gesänge aus dem Marubo veröffentlicht. Darin setzen Sie sich mit den Möglichkeiten der Übersetzung indigener schamanischer Dichtung auseinander. Wie sind Sie auf diese Texte gestoßen und worin bestehen die Herausforderungen beim Übersetzen?


GGF Mit der Übersetzung von mündlicher oder genauer gesagt vokaler Dichtkunst habe ich 2012 angefangen. Damals wurde aus einem persönlichen Interesse für Gesang, Psalmodien, nicht-westliche Dichtung usw. ein umfassendes Projekt, um – ausgehend von Ideen von Paul Zumthor – vokale Dichtkunst der Vergangenheit durch Experimente mit vokaler Dichtkunst der Gegenwart besser zu verstehen. Ich habe mir also aktuelle vokale Übersetzungslösungen in brasilianischem Portugiesisch erarbeitet, um altgriechische und lateinische Versmaße und vor allem die Oden von Horaz zu analysieren und nachzubilden. Gleichzeitig experimentierte ich – und »experimentieren ist hier ein Schlüsselwort – mit Übersetzungen aus dem modernen Liedrepertoire (aus dem Französischen, Englischen, Italienischen, Russischen usw.), gelehrter Gesangstradition (italienische Arien, deutsche Lieder, mittelalterliche Gesänge usw.) und traditioneller Dichtung (anonyme Volkslieder mit fraglicher Datierung, indigene schamanische Gesänge, Candomblé-Riten usw.), ohne diesen Formen der Dichtung irgendeine Hierarchie zu geben. Das Ergebnis war die Veröffentlichung des Buches Algo infiel: corpo performance tradução (»Etwas Untreues: Körper Performances Übersetzung«) zusammen mit meinem Freund und Kollegen Rodrigo Tadeu Gonçalves. Natürlich haben die meisten dieser Arbeiten in einem informellen Rahmen stattgefunden; die Arbeit mit der Sprache Marubo gehört zu denen, die sozusagen akademisch geworden sind. Auf einer Übersetzungsveranstaltung in Belém, vermutlich 2016, traf ich Pedro Cesarino. Ich kannte bereits sein Buch Oniska: poética do xamanismo na Amazônia (2011, »Oniska: Poetik des Schamanismus im Amazonas«), das ich mit großer Begeisterung gelesen hatte. Nachdem wir ins Gespräch gekommen waren, fragte ich ihn, ob er mir nicht ein paar der schamanischen Gesänge, die er selbst übersetzt hatte, zusammen mit den Kommentaren und Originalaufnahmen zur Verfügung stellen könnte, um mich an einer vokalen Übersetzung zu versuchen, die den Rhythmus dieser Geistergesänge berücksichtigte. Cesarino fand meinen Vorschlag sehr spannend, war aber besorgt über die ethische Seite, also was die Marubo wohl davon halten würden. Schließlich gab er mir zwei Gesänge. In diesen Gesängen stecken so viele Herausforderungen, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Zunächst einmal stehen sie in keinem Kontext, den wir als Literatursystem bezeichnen könnten. Wegen der Ähnlichkeit mit einigen literarischen Verfahren handelt es sich um Gedichte im weitesten Sinn, die aber fast nichts mit Gedichten in einer typischen Lyrikanthologie zu tun haben. In der Aufnahme überschneiden sich Anfang und Ende der Gesänge mit anderen Gesängen, mit anderen sprechenden Geistern, die paradoxerweise gemeinsame rhythmische und melodische Eigenschaften aufweisen. Außerdem werden sie nicht wiederholt, es handelt sich um einmalige Ereignisse, in denen ein Geist sich durch den Gesang im Körper des Schamanen manifestiert. Gleichzeitig weisen sie formelhafte Aspekte auf, zum Beispiel Verse, die aus anderen Gesängen aufgenommen werden, schamanisches Vokabular, wiederholte asemische Laute usw. In dem von Ihnen erwähnten Artikel ging es darum, was passiert, wenn wir versuchen, indigene Gesänge aus ihrem Kontext zu nehmen. Es ist nicht nur eine ästhetische, sondern vor allem eine ethische und politische Herausforderung: Ohne den Versuch würde diese Kunst nicht wahrgenommen werden, gleichzeitig kann er eine schlimme Beleidigung für die Kontexte sein, in denen andere Dichtung produziert wird. Nach der Übersetzung hatte ich bis jetzt nur zweimal Lust, die beiden Stücke zu singen. Und beide Male erlebte ich eine heftige psychische und physische Veränderung, aus der ich erst ein bis zwei Stunden später zurückkehren konnte. Ein Dickicht, das mich mehr gefangen nimmt als Sprachen.



Guilherme Gontijo Flores (Brasilien, 1984) ist Dichter, Übersetzer und Professor für Latein an der Universidade Federal do Paraná. Er veröffentlichte zahlreiche Gedichtbände, unter anderem, brasa enganosa (2013), Naharia (Kotter, 2017), carvão: capim (Editora 34, 2018) und Todos os nomes que talvez tivéssemos (Kotter/Patuá, 2020) sowie den Roman História de Joia (Todavia, 2019). Als Übersetzer veröffentlichte er: A Anatomia da Melancolia von Robert Burton (2013, Gewinner der Übersetzungspreise APCA und Jabuti), Fragmentos completos de Safo (2017, Gewinner des Übersetzungspreises APCA). In den letzten Jahren hat er sich mit der Übersetzung und Performance antiker Poesie beschäftigt.


 

Das Vollständige Interview ist in alba14 abgedruckt und kann in unserem Webshop bestellt werden. Für eine Online-Version können Sie ein Abonnement bestellen, indem sie auf "weiterlesen" klicken.


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