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Vier Gedichte von Ron Winkler



Finistère

 

Nach all den Tagen kann ich immer noch nicht sagen,

 

wie groß ein Gedicht sein muss für das.

 

Das Barbarische, das Unmenschliche, das Perverse, das Perfide.

 

Ein Gedicht? Für das?

 

Es wird vielleicht ohnehin schon bald begraben.

 

Und dann nicht mehr anhand der Wörter zu erkennen sein.

 

Tote bei und Tote durch und Tote mit. Und Tote in und Tote wegen.

 

Die Weltkarte zeigt nur noch Ukraine. Das Wetter: Ukraine.

 

Ich wache auf und schaue nach der Ukraine.

 

Seit ich weiß, dass Leichen zeitweilig auf Balkons gelagert werden,

 

werde ich Balkons nie wieder ohne Tote denken können.

 

Nicht ohne Sirenen. Die in meinen Sirenenzellen, Zellsirenen.

 

Täglich zieht mir das mein Ich aus.

 

(Abends zieht es dann als Ohnmacht wieder ein.)

 

Das Muttermal auf meiner linken Wange hat die Form

 

eines zerstörten Landes.

 

Alles, was mein Kind seit März aus Legosteinen baut, ist Ukraine.

 

Ist blau, ist gelb, ist Ukraine. Blau wie Ruß und gelb wie Blut.

 

Und so sind auch alle Elfen mit im Krieg. Alle Feen stecken tief

 

in der Misere und alle Märchen sind von Kriegshandlungen erfasst

 

und alle Buchstaben sind überfallen und alle Gefühle wurden überfallen

 

und alle Gewissheit ist überfallen und Gott ist überfallen.

 

Und das Gedicht ist überfallen.

 

Es hat kein Alphabet für einen Gegenangriff.

 

Nur Räume, ungewisse Räume.

 

In denen ich nicht die Friedenstaube bin.

 

Alle nichtigen Diskurse bitte in die Ausgangssperre.

 

Alle Zögernden wohin der Pfeffer wächst.

 

In meinem Gedicht aber mehrt sich das Salz.

 

Was mein zweites Kind mir in die Brust malt, sind herzförmige Ukrainen.

 

Vielleicht aus Salz. Vielleicht aus etwas, was nur Kindern eigen ist.

 

Täglich eine anders herzförmige Ukraine.





***




Ergebnis wagemutiger Verrichtung

  

der Kardinalprotektor bringt die Küchenrollen. das Wappen

selbst ist leer. eine Gegend,

die den eigenen Abstand wahrt, die Wahrheit straft.

ich sympathisiere mit dem Untergang

des Althochdeutschen.

aus dem Bereich der negativen Zahlen fällt allerletzter Schnee.

es ist unmöglich, eine Farbe für die Sonne auszuwählen.

sie scheint trotzdem. wenn auch wie zu oft

studiert. im Wesentlichen mag ich das, im Unwesentlichen gar nicht.

Traktoren ziehen an der Schorre. unter Wolkenbändern

wie der Fischart nach geordnet: Möwen

ohne Vaterland (gekonnt weit weg von allen Autobahnen).

das alles eignet sich hervorragend

sowohl fürs Deutsche als auch für das Verschludern

in elektronischen Systemen.

der dem Palais gut stehende 4-Fahnen-Ständer bleibt verwaist.

inmitten vieler anderer seltener Formen von Dominanz.

Mehrfachfühlertiere (ausgelebt als Gatterwild),

die Kehlen zu Nullen geöffnet.

wir konnten, Stahlwolle in Händen, gerade noch so abwehren,

Worte wie „Rehe“ auszusprechen.

wie Rehe. so wie Rehe. ich bin ein Paar, falls es dich tröstet.

ohne dass sofort der halbe Kontinent austrocknet.

nimm bitte nur die Tinte, die mir nicht das Herz zerreißt.





***



tbc

 


eine Umgebung ist ein Beispiel.

 

eine Umgebung schlägt eine Straße auf.

 

eine Umgebung gibst du, lebst du.

 

doch ist eine Umgebung auch, dass Fremdes deine Rolle übernimmt.

 

einer Umgebung verdankt sich das Etwaige.

 

eine Umgebung ist eine Besonderheit des Unentschlüsselbaren.

 

eine Umgebung ist eine Gegenwortanlage.

 

eine Umgebung ist ein auf Basis dieser umfassenden Scheiße

 

nicht näher definierter Ort.

 

eine Umgebung ist geballt auftretende Unfassbarkeit.

 

eine Umgebung ist, wenn das Manifeste aus dem Latenten herausgetreten ist.

 

eine Umgebung richtet an, zu deinen Händen.

 

eine Umgebung ist, gewiss zu sein bis anzunehmen, dass da eine Umgebung ist.

 

eine Umgebung ist, die Kosten selbst zu tragen.

 

eine Umgebung ist das Formular für Inhalt. wie er dir entgeht.




***

 




es macht ein Hauch von Grenze mich erzittern

 

 davon kann ich dir eine Grenze singen: eine Grenze der Pandora

 

macht noch keinen Sommer. bedecke deine Grenze, Zeus, und höre auf

 

dein Grenzgefühl. mach Heu, solang die Grenze leuchtet.

 

leb jeden Tag, als ob er deine letzte Grenze wär.

 

Grenzensinn und Grenzenwind ändern sich oft sehr geschwind.

 

nur schmück dich nicht mit fremden Grenzen.

 

eine Grenze geht um in Europa. nicht die blaue Grenze der Romantik.

 

eine stille Grenze, eine Zeit. führt nicht nach Rom. und eine kommt zu selten doch allein.

 

überhaupt ist ja die Welt all das, was Grenze ist.

 

ruckediguh, Grenze ist im Schuh. dreimal schwarze Grenze.

 

und kommt die Grenze nicht zu Mohammed, muss Mohammed zur Grenze gehen.

 

doch nenne einen Platz dein Eigen, wo jede Grenze endet.

 

Asche zu Grenzen, Grenzen zu Staub.

 

sag beim Abschied leise: Grenze.




 

Ron Winkler, 1973 in Jena geboren, lebt in Berlin. Er schreibt (und übersetzt) vor allem Lyrik und kurze Prosa. 2021 veröffentlichte er seinen aktuellen Gedichtband „Magma in den Dingen“ und eine literarische Korrespondenz mit Mara-Daria Cojocaru („Du weißt nicht, wie schwer es geworden ist, einen Brief zu verschicken“). Er gab zahlreiche Anthologien heraus, zuletzt gemeinsam mit Birgit Kreipe „Rote Spindel, schwarze Kreide: Märchen im Gedicht.“ Derzeit arbeitet er an Übersetzungen von Ada Limón.

Foto:©️Privat 

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