Lina Meruane
Aus der ersten Ausgabe von alba, erschienen im April 2012. Übersetzung aus dem chilenischen Spanisch von Rike Bolte.
Niemand spricht von ihnen. Ich behaupte, wir behaupten, im türkischen Stadtteil zu wohnen. Ich sehe oder wir sehen, wie man die Brauen hebt, es werden erstaunte Gesichter gemacht. Niemand von den Menschen, die wir hier in Berlin kennenlernen, scheint jemals in Moabit gewesen zu sein, manche sind sich nicht einmal sicher, ob sie den Bezirk auf dem Stadtplan verorten können. Im Nordosten des Tiergartens, erklären wir wiederum verblüfft und berichten dann, man habe uns dort eine kleine möblierte
Wohnung angeboten. Die Vorstellung, unsere erste Zeit in einem Viertel zu verbringen, in dem die Märkte von Frauen mit Kopftüchern besucht wurden und Jungs auf der Straße herumbolzen, die Vorstellung, inmitten der umjubelten türkischen Weltmeisterschaftstore herauszuhören, wie sich die deutsche in die türkische Sprache eingenistet hatte oder umgekehrt, hatte uns gereizt. Reine Sprachen kommen uns verdächtig vor, Reinheit als solche scheint uns nicht wünschenswert; außerdem ist viel Zeit vergangen. Im Gedächtnis Berlins jedoch ist von diesen Menschen, die in den achtziger Jahren als Arbeitskräfte in die Stadt kamen, gerade einmal die Erinnerung an deren Arbeitsleistung übrig geblieben. Da sind aber noch ihre Hände und ihre Körper, wie ein Rätsel bestehen sie fort. Plötzlich begreife ich, dass der blinde Fleck, den ich nach unserer Landung hier in Berlin bewohne (den wir bewohnen), nicht zufällig gewählt ist. Dieser Ort birgt und betrachtet gleichermaßen eine in Vergessenheit geratene Tatsache: die meines eigenen und doch irrigen Türkischseins. Denn ich war einst Türkin. Diese Bestimmung habe ich von meinen Großeltern geerbt, die wie so viele andere arabische Einwanderer mit einem Pass des osmanischen Reichs nach Chile kamen. Obgleich ich kaum mehr halbe Palästinenserin bin (sondern zu einem Viertel
noch Italienerin, dazu kommt ein weiteres, unbekanntes Viertel, womöglich ist es Mapuche), obgleich ich also eine Mischung aus vielen aufeinander folgenden Fortbewegungen bin, nannte man mich über Jahre bloß la turca. Da ich jedoch später noch ein wenig New Yorkerin wurde, und nun aus so vielen unterschiedlichen und zu Unzeiten miteinander vernähten Stoffresten bestand, blieb dieser irrige Teil meiner Identität im Dunkeln. Die Moabiter Tage erwecken dieses Türkischsein zu neuem Leben. Dabei sind dies hier wirklich echte Türkinnen, denke ich, als ich über mich nachdenke, mich mit den Frauen vergleiche, die da mit verhüllten Gesichtern, in ihrer im Ausverkauf erstandenen Kleidung vorübergehen. Diese Türkinnen, geht es mir durch den Kopf, hätten sich unter anderen Umständen, vielleicht in Lateinamerika, langsam integrieren können, sich von ihrer Unterschiedlichkeit her in unser nationales Tuch des mestizaje einwinden können. Doch es genügt, sie anzublicken, um zu begreifen, dass sie ihr bereits historisch gewordenes Berliner Dasein nicht annehmen. Haben sich die Türken womöglich nirgendwo mehr als Türken empfunden denn in der Diaspora (so wie ich mich niemals chilenischer gefühlt habe als in diesen Jahren, die ich nun im Ausland lebe)? Doch auch die Berliner haben es nicht verstanden, dieses parallele Leben in diesem ganz anderen Kiez, in dieser ganz anderen Sprache, ja in dieser Halbsprache zu verstehen, die in ihrem scheinbaren Nichtvorhandensein das deutsche Wort wachzurütteln versucht.
Lina Meruane gilt als eine der profiliertesten weiblichen Stimmen der jüngeren chilenischen Gegenwartsliteratur. 1970 kam sie in Santiago de Chile zur Welt, seit 2000 lebt sie in New York und unterrichtet dort an der Universität. Sie ist zugleich Gründerin und Direktorin des ebenfalls in New York ansässigen unabhängigen Verlags Brutas Editoras. Sie selbst debütierte 1998 mit dem Erzählband „Las Infantas“; inzwischen ist ihr Œuvre auf ein vielgestaltiges Werk angewachsen, das Romane ebenso umfasst wie jüngst Essays zur Palästina-Frage („Volverse palestina“, 2013) oder eine Anthologie zu den Spuren von Aids in der lateinamerikanischen Literatur. Foto: Timo Berger.
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